Maxi ist 12. Er hat blaue Augen und blonde Haare, dick und dicht. Manchmal hängen kleine Zweige oder Blätter darin.
Maxi ist nämlich immer draußen – fast immer.
Er geht nicht gern zur Schule, aber schließlich muss er doch, sonst kommt er ins Kinderheim, sagt seine Lehrerin.
Oder in den Knast, sagt sein bester Freund Rokko.
Auf jeden Fall muss Maxi zur Schule gehen, sonst gibt’s Ärger. Aber oft schreibt Maxi sich selbst Entschuldigungszettel und geht in den Wald, wo er am liebsten ist. Dann schnitzt er stundenlang oder erkundet neue Fährten. Oft klettert er auf einen Baum und träumt eine Stunde oder auch zwei vor sich hin. Spät abends rennt er nach Hause, aber nicht weil er Angst im dunklen Wald hat, sondern weil seine Mutter ihn vielleicht vermisst oder schon die Polizei gerufen hat.
Aber Maxis Mutter kennt ihren Sohn und weiß, dass er rechtzeitig nach Hause kommen wird.
Sie ruft auch nicht die Polizei, das war nur einmal so, ganz früher. Da war Maxi erst fünf und ist über den Zaun im Kindergarten geklettert, um dann bei einem Bach seinen zerbröselten Keks hervorzuholen und in der Sonne Purzelbäume zu schlagen.
Er ließ es sich einfach gut gehen, auf seine Art.
Wenn Maxi in der Schule sitzt und es fängt an zu regnen, zu stürmen oder schneien: Dann möchte er am liebsten rausrennen und den Wind einatmen. Die meisten Jungen denken, Maxi ist vollkommen bescheuert.
Anstatt nach der Schule Videospiele zu spielen, schwingt sich Maxi auf sein dunkelblaues Fahrrad und rast an den See.
„Wird dir da nicht langweilig…“, fragte Rokko ihn letztens, „so am See und so. Ich meine, was machst du denn da die ganze Zeit?!“ Maxi zuckte mit den Schultern. „Leben, halt.“
Maxi liebt Wälder, Bäume und Wiesen. Sein kleiner Bruder Pille kommt manchmal mit ihm raus, ist aber auf tausend Sachen allergisch und hustet am laufenden Band.
Eigentlich heißt er Nestor, aber seit er mit sechs Jahren fast an einer Erdnussallergie gestorben wäre, wollte Maxi ihn immer daran erinnern, seine Medizin dabeizuhaben - und nannte ihn deswegen Pille.
Heute wollte Pille mit Maxi mitgehen.
Die Sonne schien wunderbar und Maxi hatte eine Eins im Mathetest, er knallte seine Schultasche auf den Küchentisch und hielt seiner Mutter das Testblatt unter die Nase. „Siehste, Mama! Ich habe genug geübt für den Test, obwohl ich draußen geübt habe! Und du dachtest, draußen könnte ich mich nicht konzentrieren. Stimmt aber gar nicht, siehste!“
„Ja, da hast du recht, hat gut geklappt. Ich habe trotzdem immer die Befürchtung, dass du draußen zu sehr abgelenkt bist. Aber diesmal hat's gut geklappt.“ Maxi grinste. „Und jetzt, Frau Mama, bitte ich um eine Tafel Schokolade. Ich geh los!“
Maxis Mutter kniff ihrem Sohn in die Wange und lächelte. „Aber gern. Du bringst deine Tasche hoch und füllst mal deine Trinkflasche. Ich hol‘ dir Schokolade. Mit Nüssen oder ohne?“ „Ohne!“, rief Maxi und schnappte sich die Schultasche, „Pille kommt mit.“ Maxis Mutter blieb stehen und schaute zu ihrem Ältesten. „…Ach Maxi…wenn Nestor mitkommt…passt gut auf, okay?“ „Ja, Mama. Keine Angst. Er soll seine Notfallpulle mitnehmen.“
Maxi lief zur Treppe und schrie: „Eh, Pille! Los geht’s! Und vergiss nicht deine Sprühmedizin!“ Nestor kam die Treppe heruntergestampft. „Hab ich längst, mein Asthmaspray. Hast du Schokolade?“ „Bitteschön, die Herren.“ Ihre Mutter streckte ihnen einen kleinen, braunen Lederrucksack entgegen. „Um sieben gibt’s Essen. Seid pünktlich.“
„Ja-ha“, sagten die Brüder genervt und waren schon zur Tür hinaus.
Nach ein paar Schritten blieb Maxi ruckartig stehen und fasste sich an den Kopf.
„Oh Mann, Pille! Ich hab‘ eine krasse Idee… “ Maxi zog seinen kleinen Bruder am T-Shirt zu sich heran und guckte ihn aus seinen geheimnisvollen, blauen Augen an. „Du kennst doch diesen alten Imkerwagen, in der Nähe vom Baggersee… da lass‘ mal hin, da hab ich mein Floß versteckt! Ich war noch nie im Wald hinter dem Baggersee, und mein Floß ist gestern fertig geworden. Ich hatte aber keine Zeit mehr, damit zu fahren, weil’s Essen gab… wollen wir? Wollen wir rüber fahren?“
„… Mit dem Floß fahren?“ Pille schaute etwas unsicher drein.
„Ach, komm schon! Das hält uns beide, wirst schon sehen. Ich hab es aus leeren Tonnen gemacht, in denen war mal Öl glaub ich. Es ist echt stabil!“
Der kleine, zarte Pille mit seinen dünnen Beinchen, sah ziemlich ängstlich aus. Er ist ziemlich schwach für sein Alter und verhält sich gerne still. Er hat große, braune Augen und wenige braune Haare, die glatt auf seinem Kopf liegen und ihn wie einen Chorjungen aussehen lassen. Pille ist neun, trägt aber die Klamotten die Maxi anhatte als er sieben war. Pille wird sogar von Erstklässlern geschubst. Er ist nicht stark, aber dafür ist er so schlau wie die Lehrer. Maxi liebt seinen kleinen Bruder sehr. Maxi, Pille und Mama sind wie die besten Freunde.
Maxis Vater lebt nicht mehr, weil ein betrunkener Autofahrer auf der falschen Fahrbahn direkt in seinen Wagen fuhr. Das ist ein Jahr her.
„Ich weiß nicht, Maxi, ob wir so weit weg können… der Baggersee ist ziemlich groß!“ „Mensch Pille, ist doch erst vier! Wir haben genug Zeit.“ Maxi blinzelte in die Sonne. „Ist nicht mal Wind da. Und, wir sind ja fast schon an der Stelle wo das Floß versteckt liegt.“
Die beiden Jungen liefen über die letzte Lichtung vor dem See. Dann gingen sie den kleinen Sandweg am Ufer entlang, bis zu einer felsigen Stelle. Nun mussten sie über die glitschigen und moosbewachsenen Steine springen, ganz vorsichtig und mit dem Blick nach unten.
Hopps, noch ein großer Schritt und die zwei hatten wieder Sand unter den Turnschuhen. „Da ist der alte Imkerwagen!“, rief Pille vergnügt. Maxi war unbeeindruckt, schließlich ist er hier fast jeden Tag und diese Gegend war wie eine zweite Heimat für ihn. „Jaja, nur lass uns endlich den Anker lichten und das neue Gebiet erkunden! Durch den Wald wär der Weg ziemlich weit bis dahin, aber über den See sind wir ruck zuck da!“
Mit schnellen Schritten lief Maxi hinter den Imkerwagen und zog ein Floß aus sechs zusammengebunden, leeren Stahltonnen hervor. „Hier, die treiben, haben ja ihre Deckel. Ich muss nur schnell mein Paddel holen.“ Mit dem alten Brett, das als Paddel dienen sollte, stieß Maxi das Floß vom sandigen Ufer ab und in das ruhige Wasser.
Er begann, erst links, dann rechts, in das Wasser zu stechen, um möglichst flott den See zu passieren. Pille hielt sich dabei die gesamte Zeit über krampfhaft an einem dicken Strick fest, der das Floß zusammenhielt. Seine Augen blickten ängstlich hin und her, er sah aus wie ein gefangener Hase in der Falle. Zum Glück war Maxi ein unermüdlicher Paddler, und schnell erreichten die zwei ihr Ziel: Die andere Seite des Sees! Maxi sprang vom Floß und landete knöcheltief im flachen Wasser. Blitzschnell ergriff er das Tau, das im Wasser baumelte, und zog das Floß an Land.
„… Jetzt brauch ich erstmal Schokolade“, sagte Pille mit zitternder Stimme und lockerte seinen Griff. Maxi öffnete den Rucksack und griff nach der Tafel, um sie Pille zu reichen. „Ich binde das Floß hier fest. Kannst du auch im Laufen essen? Woll’n mal sehen, wo wir hier gelandet sind!“
Gemeinsam staksten die Brüder das kurze Ufer hoch an den Waldrand. „… Ziemlich dicht und dunkel“, bemerkte Pille mit bangem Gesicht. Maxi sah sich um. „Ja, ziemlich schwarz! Von unserer Seite sah der gar nicht so finster aus!“ Er zögerte einen Moment, wusste aber, dass Pille sein Zögern bemerken und entsprechend zurückweichen würde, wenn er als sein großer Bruder jetzt nicht schnell und mutig voran schritt. Maxi lief los.
„Ist halt ein neuer Wald, da weiß man nicht, was kommt.“
Pille folgte langsam. Sie traten auf alte Äste und schoben sich durch den dichten Mischwald. Überall knackste es, durch das Blätterdach fielen nur wenige Sonnenstrahlen. Irgendwo klopfte ein Specht. Pille blieb stehen. Maxi sah sich nach ihm um und hielt ebenfalls an.
„Pille, was denn?“ „Pschht, Maxi! … Hörst du das?“ „Was? Was meinst du? Ich höre nix.“ „Ja, eben. Nix. Man hört nix. Irgendwie unheimlich, findest du nicht?“
In diesem Moment schrie ein Käuzchen.
Maxi runzelte die Stirn. „Ach, was. Los, da vorne wird’s doch schon heller!“ Der Mutige lief geradewegs weiter, Pille sah sich um und rollte die Augen nach oben.
Boah, wie hoch wohl diese Bäume waren? Und ob es hier Bären gibt? Auf jeden F…
„PILLE! PILLEEE!!!“ Maxi schrie aus ganzer Kehle und lachte fröhlich. „Guck mal, Pille! Ich hab was entdeckt! Ein ganz altes Baumhaus! Mit Tür! Und eine selbstgenagelte Leiter steht auch dran! Wow!“ Pille rannte so schnell er konnte zu Maxi, der mit viel Schwung Gräser aus dem Weg schlug und den dicken Baumstamm umarmte. „Krass, Mann! Guck dir das an!“ Maxi juchzte. Jetzt leuchteten auch Pilles Augen.
„Das ist ja… unglaublich! Ist echt cool, so mit richtigen Wänden, komplett zu und sogar mit Tür! Nur Fenster gibt’s nicht.“
„Fenster?!? Also Pille, wer braucht Fenster? Die sind doch nur da, um Gardinen aufzuhängen. Aber das hier ist unsere Festung; und kein Gartenhäuschen. Los, wir klettern hoch!“ Maxi war sehr aufgeregt. Seine Haare klebten am Kopf, er war verschwitzt vom Paddeln. Der braune Rucksack rutschte auf seinem Rücken hin und her, als Maxi an der Leiter nach oben stieg. Pille ergriff die erste Sprosse und blickte staunend hoch. Maxi war oben angelangt. Er riss Efeu vom Türgriff und versuchte mit aller Kraft, die alten Bretter in Bewegung zu bringen.
„Hau-ruck, hau-ruck!“ Geschafft!
Mit einem lauten Knarren ging die Tür nach vorne auf und Maxi wirbelte der Staub entgegen. Blätter und Holz rieselte nach unten. „Ey!“, schrie Pille, der alles abbekam. „… Mensch, Pille! Nun sieh dir das an! Völlig dunkel! Nur durch die Bretter scheint ein bisschen Licht!“ Pille war fix oben. Die Brüder konnten gar nicht glauben, was für einen großartigen Fund sie da gemacht hatten. Verschmitzt lächelte Maxi seinen kleinen Bruder an. Pille ließ sich in eine Ecke fallen und atmete aus. „Mann oh Mann. Das ist das Tollste, das ich je gesehen hab!“ Maxi klatschte in die Hände und sprang auf. „Und keiner kennt das, außer wir!“
Er beugte sich zur Öffnung hinaus und angelte nach der Tür. Rumms. Die Tür war zu, und plötzlich wurde es um die Brüder dunkel.
Nichts war mehr zu sehen, kein Licht, nicht einmal durch die Bretter schien das Sonnenlicht.
Auf einmal donnerte es wie bei einem Gewitter, bloß dass das Gewitter nicht draußen war, sondern drinnen! Es war, als würde das Baumhaus geschüttelt werden, als würde ein Riese den Baum ausreißen und ihn wie eine Rassel schütteln. Es war laut und fürchterlich.
„Maxi, Hilfe! Was passiert hier? Maxi!“ Pille schrie aufgeregt und tastete nach seinem Bruder. Maxi war starr vor Schreck und hatte unglaubliche Angst.
Die Bretter unter ihm und neben ihm bebten und bogen sich, eine Art feiner Staub bildete sich in der Luft, wie aus dem Nichts rumpelte und ruckelte alles und Maxi spürte eine Art heißen Dampf. Die Brüder schrien wie am Spieß. „Was ist das? Ahhhhhh!“ Ihre Augen waren geöffnet, aber um sie herum war es pechschwarz. Und auf einmal, von einer Sekunde auf die andere: War alles still, nichts bewegte sich.
Es gab einen lauten Knall und schlagartig wurde es um sie herum heller als in der Sonne selbst; die Jungen kniffen die Augen zusammen und hielten sich die Hände vor das Gesicht. Pille schrie aus vollem Leib: „Hilfeeeee!“ Das grelle Strahlen verging schnell, es kam und ging wie ein Blitz, aber jetzt spürten die Brüder Tageslicht.
Maxi nahm die Hände vom Gesicht und versuchte, zu blinzeln. Er konnte nichts erkennen. Seine Augen mussten sich erst von dem heftigen Lichtwechsel erholen. Maxi rieb sich die Augen, blinzelte und starrte auf etwas Mächtiges, was sich vor seinen Augen bildete.
Das verschwommene Bild wurde klarer, jetzt erkannte Maxi, was da vor ihm in den Himmel ragte: Vor ihm stand eine riesige Burgmauer.
Seine Ohren hörten nun viele Geräusche, er hörte Hufgeklapper, Schreie hinter der Burgmauer, quiekende Schweine. Vogelgezwitscher. Hammerklopfen. Hundegebell.
Mit riesigen Augen blickte er vor sich und wie im Traum griff er nach seinem Bruder. Dieser saß neben ihm auf dem Sand und traute sich nicht, zu gucken. „Maxi, was ist das? Wo sind wir?“ Pille schluckte und eine Träne kullerte herab und fiel auf den staubigen Boden.
„Pille… das musst du dir angucken. Du wirst es nicht glauben.“
Die Hände von Pille gingen langsam nach unten, sein angsterfülltes Gesicht war rot und etwas schmutzverschmiert. „… Aber, Maxi! Wo sind wir? Was ist das? Wo sind wir?“ Pille liefen die Tränen über das Gesicht.
„Nestor – Wir träumen doch nicht! Wir sind bei einer Burg! Sieh mal, da!“ Unterhalb des Berges polterten einige Pferdewagen den schmalen Weg zur Burg hinauf. Sie hatten Fässer geladen.
Pille schniefte und kratzte sich am Kopf. „Maxi…du hast die Tür vom Baumhaus zu gemacht, und dann… und dann… Maxi: Sind wir in einer anderen Zeit?“ Maxi konnte sich nicht bewegen. Seine Augen starrten auf die Burgmauer.
„… Ich glaube ja.“
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