Es ist nicht zu fassen, Maxi und Pille saßen vor einer riesigen Burgmauer und Maxi fasste Pille an der Schulter.
„Irgendwie…sind wir hier gelandet. Ich weiß nicht, wie das geht, aber es ist wahr! Ich hab mich jetzt schon zehnmal gekniffen.“
Maxi zeigte auf ein rundes Dach, das weit in der Höhe vor ihnen das Ende eines Turmes bildete und wie eine Zwiebel geformt war. “Siehst du das?“ „Maxi, das geht doch gar nicht“, schniefte Pille, „wir waren doch gerade zusammen im Baumhaus!“ „Ja, eben! Das Baumhaus ist schuld, wir sind durch das Baumhaus hier!“
Pille heulte, als ob er gerade in den Kindergarten zurückversetzt wurde. „Glaube ich auch! Mann Maxi! Ich habe Angst!“. „Pille! Beruhig‘ dich! Pille! Wir werden das alles schon verstehen, aber du musst ruhig bleiben!“ Maxi rieb seinem Bruder tröstend den Rücken. „Wir packen das schon. Das ist völlig verrückt, aber wir…“ Eine laute Stimme unterbrach Maxi.
„Hey da! Ihr!“ Maxi drehte seinen Kopf, Pille blieb regungslos sitzen und schluchzte laut. „Wer seid ihr? Ich kenne euch nicht.“ Ein Junge in einem komischen Anzug kam auf sie zugelaufen. Er hatte ein enges, blaues Hemd aus Seide an, von dem ein Rock im gleichen Stoff abging. Seine Beine bekleidete eine Art Leggings und an den Füßen hatte der Junge keine richtigen Schuhe, sondern knöchelhohe Lederstiefel, die am oberen Ende mit rotem Stoff verziert waren. Er trug eine komische Kappe auf dem Kopf. Seine Kleidung konnte man anscheinend an allen möglichen Stellen zuschnüren, denn etliche Bänder und Knöpfe waren daran genäht.
„Gottes Gnaden mit euch“, sagte der Junge, als er vor den Brüdern stand.
„Sagt mir, wer ihr seid.“ Maxi stieß Pille an, der vorsichtig hinter seinen Händen hervorblickte. Schon weinte er weiter und seine verheulten Augen vergrub er wieder unter seinen Händen. Er wimmerte dem Fremden entgegen: „Wir sind gar nicht von hier, wir waren in einem Wald, und dann waren wir hier.“
Maxi blickte in das ernste Gesicht des Jungen. Der Fremde hatte braune Locken, einen stechenden Blick in den dunklen Augen und in seiner Hand hielt er einen Stock, an dessen Ende Vierecke aus Pergamentpapier angebracht waren. Der Wind blies darüber und die Vierecke drehten sich wie bei einem kleinen Windrad.
„Ich verstehe euch nicht. Seid ihr aus dem unteren Wald durch den Obstgarten hier herauf gelangt? An diesem Ort wird viel gebaut. Wolltet ihr wohl etwas stehlen? Sagt es mir!“
Der Junge ging einen großen Schritt nach vorn und trat nach Maxi. „Wieso sitzt ihr hier? Und warum heult dieser?“ Er deutete mit seinem Stock auf Pille. Pille schluckte. „Mach ich gar nicht.“ Maxi stand auf. „Hör mal. Wir sind schon wieder weg. Wir wollten nur…“
„Nun?“ Maxi stotterte: „Zu – ähm – zu Martin.“ „Martin? Dann lasst mich euch zu ihm führen. Kommt.“ Der Junge drehte sich zur Mauer und lief einige flotte Schritte an ihr entlang. Maxi und Pille blickten ihm nach und beide überlegten, dass es wohl klüger sei, ihm zu folgen. Wer weiß, vielleicht kann der Fremde ihnen helfen.
Maxi staunte über dieses sonderbare Abenteuer und erkannte, dass ihnen gerade etwas Außergewöhnliches passierte.
Pille wollte das alles nicht ganz wahr haben. Irgendwie spürte er aber, dass es keinen Ausweg gab und schon liefen sie mit schnellen Schritten dem ungewöhnlichen Kind hinterher. Aber Pille fand das alles komisch. „Man hörte kein einziges Auto; sieht keine richtige Straße. Nur diese Polterwege. Und dann diese komischen Klamotten.“ Er flüsterte Maxi ins Ohr: „Vielleicht ist hier gerade Fasching.“
Vor ihnen drehte der Junge seinen Kopf und blickte zu den Brüdern. Schon fast freundlich fragte er: „Wie sind eure Namen?“ „Ähm, ich heiße Maxi, Maxi Büring. Das ist mein kleiner Bruder Nestor. Und wie heißt du?“
„Mein Name ist Johann von Brandenburg.“ Mit herrschaftlichem Blick ergänzte Johann: „Mein Vater überprüft dieser Tage den Fortschritt des Ausbaus unserer Burg.“
„… Eurer Burg?“ Maxi fehlten die Worte.
Die drei Jungen bogen nach links und vor ihnen erschien ein steinerner Torbogen. Als sie hindurch liefen, standen sie im vorderen Burghof. Maxi und Pille bot sich ein imposanter Anblick: Ein riesiger Burghof mit mächtigen Gebäuden, hohen Türmen mit runden Dächern, massive Wände aus großen Steinblöcken. Überall klopften verschwitzte Männer auf Stahl oder Holz.
Johann bemerkte, dass die Brüder wie versteinert zu sein schienen und rief ihnen zu, sich zu beeilen. Er führte Maxi und Pille durch eine große Holztür in einen kleinen, dunklen Durchgang. Die Brüder konnten nicht fassen, dass sie gerade mit einem fremden Jungen im Faschingskostüm durch „seine“ riesige Burg liefen.
„Sagt, wollt ihr Martin zu eurem Hause führen? Liegt denn jemand im Sterben? Dann können wir gleich nach dem Pfarrer Ausschau halten, er wird mit euch beten, wenn ich ihn bitte. Ihr sollt wissen, er hat mich gern. Mehr als die Geschwister. Er hat uns alle getauft, aber nur mir liest er aus der Bibel vor.“ Johann schritt stolzen Ganges durch die feuchten Mauern.
„Geschwister? Wo sind die, Johann?“
Maxis Frage beantwortete Johann, während er eine Tür aufstieß und durch einen übelriechenden, strohbedeckten Gang lief. „Die Kleinen, der Friedrich, Amalie und Barbara, sie sind mit uns auf der Plassenburg. Ursula, Elisabeth und Margarete sind daheim.“
Maxi war verwundert. „Wie, ich dachte, du wohnst hier?“
„Nicht immer. Wir haben viele Besitzungen. Erlaubt, aber Ihr Knaben seid recht unwissend. Ward ihr noch nie auf der Plassenburg? Ihr müsst doch eure Landesherren kennen.“
Plassenburg? Maxi dachte scharf nach. „Hey!“, rief Pille glücklich, „unsere Oma wohnt bei der Plassenburg! In Kulm- ähh, Kulm-…“ Maxis Augen leuchteten auf, „Kulmbach!“, rief er freudig. „Richtig Pille, die Plassenburg ist in Kulmbach!“ Er klopfte Pille anerkennend auf die Schulter.
„Aber weißt du, Pille, unsere Großmutter ist in dieser Zeit wahrscheinlich noch gar nicht geboren… das hier ist eine andere Zeit.“„Eure Großmutter wohnt unten in der Stadt? Habt ihr keine Eltern, wohnt ihr bei ihr?“ Während dieser Frage klopfte Johann mit der flachen Hand gegen ein kleines Glasfenster.
„Ja“, sagte Maxi freimütig, denn er wusste, diese Baumhausgeschichte ist zu verrückt. Keiner würde sie glauben. Er wusste: Sie befinden sich in einer anderen Zeit. Aber in welcher bloß? Vielleicht sind sie sogar hundert Jahre zurückgereist, so wie es hier aussieht. In Gedanken zählte Maxi zurück, welches Jahr es vor 100 Jahren war: 1914.
Er flüsterte Pille ins Ohr: „Vielleicht ist das hier das Jahr 1914.“
„Tretet ein, junger Herr.“ Ein Mann in braunem Umhang, mit dünnen Beinen und wenig Zähnen im Mund, öffnete Johann die Tür. Hinter ihm lag ein stöhnender, blutüberströmter Mann auf einem hölzernen Bettgestell. Johann blickte an Martin vorbei und runzelte die Stirn.
„Wer ist das, Martin?“
„Einer der Bauleute, junger Herr. Ist gestürzt, hat sich dabei sämtliche Wunden zugezogen und einige Knochen sind zerschmettert. Das wird nichts mehr mit dem Ärmsten.“ Martin seufzte. „Seine Reise durch dieses Jammertal geht zu Ende.“
Pille sah mit großen Augen auf den Arbeiter, der bis vor kurzem noch mit seinen Gesellen am Kapellendach zugange war. Der Mann lag wimmernd in seinem eigenen Schweiß und Blut.
Plötzlich stieß er einen lauten Schrei aus. Martin trat hinaus und schloss die Tür hinter sich. „Nun, was ist die Dringlichkeit?“
Johann trug vor, die Jungen haben ihn sehen wollen. Maxis Kopf war leer. Was sollte er sich ausdenken? Was sollte er sagen?
Da kam Pille zum Einsatz. „Unsere Großmutter ist – äh – krank. Bitte helft ihr.“
„Sieh an, was plagt sie denn?“
„Naja, sie hat rote Augen und eine geschwollene Nase und, äh, sie muss immer niesen und ihre Ohren jucken. Und ihre Haare tun ihr weh.“ Martin besah sich diesen kleinen, bunten Jungen. Pille trug ein gestreiftes T-Shirt in vielen Farben. „Bist du ein Hofnarr von Markgraf Albrecht? Solch sonderbare Bekleidung.“ Seine Augen wanderten nun auf Maxi. Die braune Hose und das olivgrüne Hemd fielen aber bis auf den fremden Schnitt nicht weiter auf.
„Ich komme, sobald der Mann dort drin seine Qualen überstanden hat.“ Pille stockte. „… Wird er sterben?“ Schon wieder kamen ihm die Tränen, er drehte sich zur Wand, zog das Asthmaspray aus der Hosentasche und nahm einen kräftigen Zug. Martin schüttelte den Kopf, als ob es ihm seltsam erschien, dass dieses Kind den heranrückenden Tod eines fremden, unwichtigen Mannes beklagte.
Johann lief mit den Brüdern zurück in Richtung des vorderen Burghofs, wo ein kleiner Junge auf einem Steckenpferd über den Sand hopste. Johann schaute in die glühende Sonne und hielt sich schützend eine Hand vor das Gesicht.
„Ich mache mich mit Friedrich auf zur Amme. Bis zum abendlichen Mahl ist es nicht mehr viel Zeit. Geht mit Gott!“
Maxi schaute schnell auf seine Armbanduhr: Es war halb sechs! Die Zeit lief tatsächlich weiter. In anderthalb Stunden mussten sie beim Abendessen zu Hause sein, obwohl sie nicht mal wussten, wo sie sich überhaupt befanden! Zwischen ihnen und dem Abendbrottisch lag nicht mehr nur eine Floßfahrt über den See, vielleicht waren sie sogar ein paar hundert Jahre von ihrer Mutter und ihrem Haus entfernt!
Pille stürmte hinter Johann her. „Halt, Johann!“
Der kleine Kurfürst Johann von Brandenburg drehte sich um und legte seine Hände auf die Schultern des sechsjährigen Friedrich vor ihm, dessen helle, grüne Augen die Turnschuhe von Pille fixierten. „Johann“, sagte Pille außer Atem. „Wie alt bist du?“ Pille hatte genug von dieser Show, er wollte jetzt endlich wissen, was hier los ist und ob sie wirklich im Jahr 1914 gelandet waren. Tief blickten Johanns ernste Augen auf Pille. „Ich bin bereits 10 Jahre alt.“ „Und, Johann: Wann bist du geboren?“ Diese Antwort sollte Pille umhauen. „Am 2. August 1455.“
Regungslos und ohne ein Wort stand Pille wie eingefroren da. Johann ist 1455 geboren. Johann ist jetzt 10. Also sind sie in dem Jahr… 1465. 1465? Durch das Burgtor kam eine Holzkutsche gerollt. Der Kutscher hielt ein Wappen in die Luft.
„Wie…“, Pille drehte mechanisch seinen Körper in Richtung seines großen Bruders, „aber wie - wie - wie kommen wir denn jetzt nach Hause?“
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